Wenn der letzte Weg Nähe schafft – Seelenflüsterin Ute und ihre Weggefährten zwischen Trauer und Tod
Es ist ein stiller Raum, in welchem das Licht sanft durch die Fenster fällt, während Ute, eine zierliche Dame mit sanftem Lächeln und ruhiger Ausstrahlung die letzten Vorbereitungen für eine ganz spezielle Gruppe von Menschen trifft. Denn diese Personen, die hier, nicht fern des regen Kleinstadttreibens einmal im Monat zusammenkommen, verbindet alle ein und dasselbe Schicksal, wenngleich in unterschiedlichen Nuancen: Sie alle haben einen geliebten Menschen verloren und leben nun in Trauer. Doch hier, wo Ute mit ihrem Trauertreff einen geschützten Ort anbietet, an welchem jeder Mensch willkommen ist, unabhängig von Alter, Geschlecht, Familienstand oder Konfession, geht es um wesentlich mehr als nur um den Schmerz des Verlusts. Es ist eine Begegnungsstätte, an der jeder genau so sein darf, wie er eben in einem solch herzzerreissenden Lebensabschnitt ist – voller Wut, Kummer oder Leid - aber auch mit jenem Funken Mut in den Augen, der die Flamme der Hoffnung irgendwann wieder auflodern lassen kann.
Ute trägt die Reife des Lebens in sich und strahlt die innere Ruhe einer Person aus, die den Tod nicht nur akzeptiert, sondern in ihm auch eine Aufgabe gefunden hat. Eine Aufgabe, die mit tiefster menschlicher Begegnung und mit der Begleitung von Menschen auf deren letzten Abschnitt ihres Lebenswegs zu tun hat.
Ursprünglich kommt Ute aus der Krankenpflege. Sie arbeitete viele Jahre auf der Intensivstation, wodurch sie häufig mit sterbenden Menschen zu tun hatte und so eine besondere Beziehung zum Thema Tod entwickelte: Das Sterben im Krankenhaus sei nicht immer leicht gewesen, erinnert sie sich. Viele Menschen litten unter starken Schmerzen oder Ängsten und häufig habe sich Hilflosigkeit breit gemacht – bei den Ärzten ebenso wie bei den Pflegekräften. Diese Erfahrungen prägten Ute bereits in jungen Jahren. Sie suchte nach Wegen, das Sterben menschlicher zu gestalten, den Schmerz zu lindern – nicht nur körperlich, sondern auch emotional.
Sie entschied sich, eine Palliativ-Weiterbildung zu machen, die sie auf den Weg der umfangreichen Hospizarbeit führte. Und dieser Weg sollte ihr Leben nachhaltig verändern. „Sterben tun wir ja alle“, sagt sie mit ruhigem Tonfall und einem schüchternen Lächeln. Diese unwiderlegbare Wahrheit trifft die Realität mit einer schmerzhaften Klarheit direkt auf den Punkt. Es ist diese Realität, der sich die meisten Menschen nicht stellen wollen. Dieses Verhalten begegnet Ute immer wieder: Wenn das Thema im Freundes- oder Familienkreis aufkommt, höre sie oft nur: „Ach, du schon wieder! Nein, sterben tun wir heute nicht“. Fast ein Jeder halte an der Unbeschwertheit des Lebens fest, solange es geht, während der Tod in die hintersten Ecken des Bewusstseins verbannt wird.
Doch dann, eines Tages, passiert es doch. Es trifft uns eiskalt, unerwartet und mit voller Wucht. Und plötzlich ist die Frage da: Was mache ich jetzt? Was soll ich tun? Durch Vorsorgevollmachten und Patientenverfügungen haben Menschen noch zu Lebzeiten die Möglichkeit, selbst zu bestimmen: „Wenn ich mal diesen Weg beschreite, dann möchte ich gerne so und so und so behandelt werden, ich hab das in meinen Vollmachten drin stehen. Was ist für die Medizin möglich? Was wünsche ich mir?“
Es sind diese Entscheidungen, die vielen schwerfallen, doch genau diese Entscheidungen seien so wichtig: „Ich könnte ja zu Lebzeiten schon etwas regeln,“ sagt sie. Und tatsächlich tun das auch immer mehr. Sie treffen Vorkehrungen, sie gestalten ihre Bestattungsvorsorge, legen fest, was sie sich wünschen, bevor ihre eigene Stimme irgendwann vielleicht nicht mehr gehört werden kann. Es ist ein Akt der Selbstbestimmung, ein Versuch, Kontrolle zu behalten in einer Phase, in der das Leben unberechenbar wird. „Es wäre schön, wenn man jeden in diese Richtung begleiten könnte,“ spricht Ute nachdenklich. Denn es gehe nicht nur um die Frage, wie man stirbt – sondern vor allem auch darum, wie man bis zum letzten Moment gelebt hat.
Die Hospizbegleitung hilft, diese Entscheidungen zu respektieren und den Weg zu erleichtern. Es gehe um Fürsorge, darum, dass niemand alleine diese letzte Reise antreten muss, und darum, dass der letzte Schritt nicht voller Angst, sondern mit Würde und Frieden beschritten werden kann. Die meisten Menschen können sich nur schwer vorstellen, warum man sich ausgerechnet dem Sterben zuwendet, wenn man aber einmal erlebt habe, wie wichtig es ist, Menschen in diesen letzten Momenten zu begleiten, dann verstehe man erst, dass darin eine ganz besondere Art der Erfüllung liegt, sagt Ute.
Als die gelernte Krankenpflegerin vor drei Jahren in Rente ging, war für sie klar, dass sie die Hospizarbeit mit all ihren Facetten nicht einfach hinter sich lassen wollte. In ihrem Innersten wuchs die Idee heran, nicht nur Sterbende zu begleiten, sondern auch für die Hinterbliebenen einen geschützten Raum zu schaffen, in welchem sie ihre Trauer verarbeiten können - die Geburtsstunde des Trauertreffs. Und genau dieser Trauertreff, den Ute einmal im Monat leitet, ist ein solcher Raum. Ein sicherer Ort für all jene, die in Trauer leben. Die meisten Menschen erwarten, „[…] dass nach einer gewissen Zeit die Trauer wieder verschwinden soll“, dass Trauer irgendwann vorbei ist, sagt Ute mit warmer Stimme. Früher habe man oft vom Trauerjahr gesprochen, nach dem angeblich wieder Normalität einkehren sollte. Aber nein, für viele „[…] geht es eigentlich nach dem Trauerjahr erst so richtig los“ - und die vermeintliche Rückkehr zur Normalität bleibt aus. Wenn die Trauernden dann versuchten, ihre Gefühle zu teilen, stoßen sie nicht selten auf Unverständnis. Sie ;werden allzuoft beschwichtigt, zur Seite geschoben – als wäre ihre Trauer nach Ablauf der „Frist“ nicht mehr legitimierbar. Inmitten ihrer Trauer fühlten sich viele Menschen dann allein gelassen, oft missverstanden von ihrem Umfeld.
Doch im Trauerkreis finden sie etwas, das ihnen Trost schenken kann: Gemeinschaft. „Ich begleite Menschen, um ihnen Mut zu machen, sich mit dem Sterben und der Trauer auseinanderzusetzen“, so Ute voller Hingabe. Im Trauetreff könnten die Trauernden sehen, dass sie nicht alleine sind. Jeder habe zwar eine eigene, individuelle Geschichte, doch die Erfahrung des Verlusts verbindet sie auf tiefster emotionaler Ebene miteinander. Im Trauertreff sei es nicht wichtig, wessen Trauer schwerer wiegt – was zähle, sei das gegenseitige Verständnis, das Gefühl, gesehen zu werden und gegenseitige Unterstützung zu erfahren. In ihrem Trauertreff, den Ute mit einer Mischung aus Empathie, Struktur und einer schier unendlich großen Menge an Herzlichkeit leitet, gibt es keine falschen Gefühle. „Hier darf jeder so sein, wie er ist,“ betont sie.
Trauerbewältigung sei keine Reise, die man leichtfertig antritt – Für viele Trauernde sitze der Schmerz so tief, dass es ihnen äußerst schwer fällt, sich überhaupt zu öffnen. Sie seien oft in sich gekehrt, gefangen in ihrer eigenen Katastrophe. Jeder Verlust fühle sich für jeden Einzelnen wie der schlimmste überhaupt an, unüberwindbar und allumfassend. In diesen Momenten des Leidens zähle nicht, was der andere durchmacht, denn der eigene Schmerz scheint unerträglich. Das sei aber auch völlig normal, gibt Ute mit einem warmen Lächeln zu bedenken.
Deshalb beginne der Weg aus der Isolation meist mit einem behutsamen Einzelgespräch – fernab von großen Gruppen oder unpersönlichen Treffen: in einem Café, am See oder sogar in der Stille einer Kirche. Diese ersten Begegnungen seien ein vorsichtiges Herantasten, um herauszufinden, wie die Trauernden am besten unterstützt werden könnten und welcher Trauertreff für sie geeignet wäre - denn im Landkreis Tirschenreuth gibt es mehrere Gruppen für Menschen, die in Trauer leben. Eine spezielle Trauergruppe für Kinder und Jugendliche findet sich in Neustadt an der Waldnaab. Hier können Kinder, die den Verlust eines geliebten Menschen erleben mussten, ihren Schmerz in einem geschützten Raum teilen, betreut von ausgebildeten Fachkräften. Ute spricht mit warmer Stimme über die Begegnungen, die sie bereits erlebt hat, ob am Friedhof, in einem Café oder beim Spazierengehen am Weiher. Diese Begegnungen seien keine großen, dramatischen Ereignisse, sondern oft leise, intime Momente, in denen sich die Trauer entfaltet.
Inmitten all dieser Gemeinschaften gibt es sie - die stillen, verletzlichen Momente eines jeden Einzelnen. Und so bleibt in manchen Situationen auch Ute selbst nicht unberührt von den Schicksalen der Menschen, die sie begleitet. Natürlich „[…]versuche ich schon, mich möglichst auf jeden einzulassen. Aber für mich ist dann auch nach einer gewissen Zeit wieder klar: Wir werden uns trennen. Unsere Wege teilen sich jetzt irgendwann einmal und dann hängt mir das eine oder andere schon mal hinterher“, gibt sie offen zu. Manchmal bleiben dabei auch Tränen nicht aus, aber das gehöre dazu.
Für all das bekommt Ute keinen Lohn, keine materielle Entschädigung - Ute macht all das ehrenamtlich. Auf die Frage, warum sie diese oft nicht einfache Aufgabe unbezahlt auf sich nimmt, lächelt sie nur: „Ich kriege ja auch 1000 Sachen zurück,“ sagt sie. Ein einfaches ‚Danke‘ oder ein Lächeln von jemandem, der sich verstanden fühlt und sagt, dass er wiederkommen wird – das sei Lohn genug. Für Ute ist das Ehrenamt eine Bereicherung – nicht nur für die Menschen, die sie begleitet, sondern auch für sich selbst.
Utes Engagement ist ein aufrichtiges Zeugnis davon, dass Trauernden zu helfen nicht bedeuten muss, selbst stets traurig zu sein - ganz im Gegenteil: „Ich mach mir doch ein schönes Leben“, sagt sie mit einem Lächeln, das von innerer Zufriedenheit herzurühren schein. „Ich bin ja nicht nur 24 Stunden, 365 Tage im Jahr für alle möglichen Leute zuständig. Ich habe sehr viel Spaß und Freude in meinem Leben […] Ich mache auch High Life und Halligalli.“ Es sei eine gesunde Balance, die sie gefunden hat, und die sie erfüllt. Für Ute sind die Herausforderungen des Lebens auch keineswegs nur Bürden, die es zu tragen gilt.
So stelle der Trauertreff, den sie einmal im Monat organisiert, für sie viel mehr als eine reine Pflichtveranstaltung dar - insbesondere das ganze Drumherum bereite ihr auch wahrlich große Freude, weil sie hier all ihre Ideen verwirklichen kann - wenngleich das in diesem Kontext auf den ersten Blick paradox erscheinen mag: „Natürlich ist das ein bisschen was [zu tun], aber ich muss halt auch sagen, es macht mir auch Spaß, dass ich […] mir überlege: Was könnten wir brauchen, was brauchen wir für Deko? Was könnten wir essen?“, erklärt sie mit leuchtenden Augen. Für Ute ist das eine Art von Gastfreundschaft, die ihr ebenso viel zurückgibt, wie sie hineinsteckt.
Am Ende eines sehr intensiven Gesprächs widmet sich Ute wieder den letzten Vorbereitungen für den heutigen Trauertreff. Sie macht das mit einer Leichtigkeit, die inmitten der Schwere der Thematik fast schon surreal erscheint. Aber vielleicht ist es gerade diese Mischung aus Ernsthaftigkeit und Leichtigkeit, die Ute so besonders macht – und die ihren Trauertreff zu einem Ort der Menschlichkeit, des Mitgefühls und des Trostes werden lässt.
Denn, wie sie es selbst ausdrückt: „Am Ende geht es nur darum, für jemanden da zu sein.“ Und das sei etwas Wunderschönes.
„Ich begleite sterbende und trauernde Menschen, um ihnen Mut zu machen. Und was machst du?“